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Spannende Silben, sensible Syntax
Die Welt des Geigers Oliver Colbentson

Auf den ersten Blick ist Oliver Colbentson ein würdiger Herr - ein Eindruck, der sich aber schnell relativiert, wenn man dem drahtigen Amerikaner in die lebhaften Augen schaut oder sich inmitten künstlerischer Fachsimpeleien plötzlich der Frage gegenübersieht, ob man denn nicht lieber einen Film mit den Marx-Brothers ansehen wollte, und von diesem Augenblick an scheint es fast so, als säße man der Reinkarnation eines (allerdings geigenden) Charles Ives gegenüber: So ungefähr muss auch der Mann aus Danbury, Connecticut, gewesen sein, so inspiriert und inspirierend, so interessiert an allem, was Leben bedeutet...

Oliver Colbentson stammt aus Chicago, wo er zunächst von seinem Vater und dann von Leon Sametini unterrichtet wurde. Der Sieg in einem großen Wettbewerb ermöglichte ihm einen ersten konzertanten Auftritt in der berühmten Orchestra Hall von Chicago. Unmittelbar danach folgten weitere Konzerte in verschiedenen Staaten der USA.

Von 1954 bis 1958 war Colbentson Konzertmeister im Orchester der New Yorker Metropolitan Oper. Schon damals gab er viele Konzerte in Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien, England, der Schweiz, Italien und Österreich; überdies entstanden in diesen Jahren zahlreiche Rundfunkaufnahmen.

 
1958 übersiedelte Oliver Colbentson nach Deutschland. Er wurde Dozent am damaligen Meistersinger-Konservatorium, der heutigen Musikhochschule Nürnberg. Und noch heute kann er sich über mangelnde Nachfrage nicht beklagen. Trotz seiner mehr als 1200 Konzerte, die er neben seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit im In- und Ausland gegeben hat, strahlt Oliver Colbentson denselben Optimismus, dieselbe musikalische Freude und Neugier aus, die ihm vor mehr als einem halben Jahrhundert einen ganz außerordentlichen Musikpädagogen bescherte - den großen Cellisten Diran Alexanian, dessen Theorien und praktische Nutzanwendungen die Künstlerische Denkungsart des Geigers Colbentson nachhaltig beeinflußt hat.


Oliver Colbentson (rechts)
und Erich Appel
Der Armenier Diran Alexanian wurde 1881 in Konstantinopel geboren und starb 1954 in Chamonix. Er studierte zunächst bei Friedrich Grützmacher und hatte während seiner Ausbildung die Gelegenheit, mit Johannes Brahms und Joseph Joachim zu musizieren. Der Siebzehnjährige errang einen triumphalen Erfolg, als er kurzfristig für den prominenten Hugo Becker einsprang, um unter der Leitung von Richard Strauss das Solo der Tondichtung Don Quixote zu spielen. Wenig später gab er bereits Konzerte mit Arthur Nikisch und Gustav Mahler. 1922 gab er mit seinem wahlverwandten Kollegen Pablo Casals einen Traité théorique et pratique du violoncello, sieben Jahre später eine analytische Edition der Bachschen Solosuiten heraus. Von 1921 bis 1937 war er an der Pariser Ecole Normale de Musique tätig, dann ging er in die USA, wo er unter anderem Maurice Eisenberg und Antonio Janigro ausbildete und aufgrund seiner ganz eigenen Methode unzählige Künstler und Studenten anzog.

Die musikalische Weltanschauung seines Meisterlehrers hat Oliver Colbentson zur Zeit seiner Ausbildung, mithin vor einem guten halben Jahrhundert , für eine amerikanische Zeitschrift zu Papier gebracht: Erklärungen für musikalischen Inhalt und Ausdruck ist eine komprimierte, nicht nur für Streicher im allgemeinen oder Cellisten im besonderen höchst bemerkenswerte Arbeit, denn sie führt uns in ein Kapitel der Musikgeschichte zurück, das wir eigentlich zu kennen glaubten und das womöglich um einige Facetten erweitert werden müßte, wenn das, was Alexanian überliefert hat, nicht einer persönlicher Fantasie entspringt.


Colbentson berichtet, dass der junge Diran Alexanian bei seiner Arbeit an der Solostimme der e-moll-Sonate von Johannes Brahms vom Komponisten selbst im Hinblick auf die richtige Phrasierung so nachdrücklich korrigiert worden sei, dass er das Verhältnis zwischen Phrasen und Taktstrichen völlig neu verstanden habe. Die Folge war eine förmliche Dekodierung, die ihn schließlich zu einer ganz eigenen Art der musikalischen Analyse - fern bloßer Stufen - oder Funktionstheorien - führte und sich offensichtlich bei allen, die mit ihm in Berührung kamen, auf Dauer einprägten.

Zentrale Begriffe der überaus praktikablen Theorien sind Verdichtung, Gefühl, musikalische Silben und Intensitäten, und die Vorstellung, dass Alexanian gewissermaßen auf Schleichwegen die wahre Art zu musizieren sollte überliefert haben, ist erschreckend und faszinierend - oder wie wäre es, das erste Thema der vierten Symphonie von Johannes Brahms dergestalt betont zu hören, dass der Auftakt ein besonderes Gewicht hat - entgegen der allgemeinen Auffassung, wonach ein Auftakt immer leicht zu nehmen sei...

Der Ausflug in die Historie und die Kurzfassung der Theorien erschienen uns unumgänglich, denn etliche der Aufnahmen, die Oliver Colbentson im Laufe seiner Karriere gemacht hat, wirken im ersten Moment wie eigenwillige Interpretationen. Bei näherer Betrachtung - und unter besonderer Berücksichtigung des zuvor Erwähnten - erweisen sich die musikalischen Positionen jedoch als äußerst hieb- und stichhaltig: Die große Anthologie der Violinmusik, die Colbentson eingespielt hat, verblüfft durch eine immense Spannung und durch eine Intensität, die man erst wirklich begreifen wird, wenn man sich mit den Hintergründen dieses künstlerischen Ansatzes vertraut gemacht hat. Natürlich verselbständigt sich im Laufe des Lebens die von einem Lehrer übertragene Prägung und wird Teil der eigenen Persönlichkeit.

Oliver Colbentson hat für seine umfangreiche Kollektion einen idealen Partner gefunden: Den Pianisten Erich Appel, den wir bereits mit einem ungewöhnlichen Colosseum-Projekt vorstellen konnten - als einen der letzten Künstler, die neben Elly Ney den Graf-Flügel von Ludwig van Beethoven hat benutzen dürfen. Er hat seinen Kollegen bei der Einspielung eines geradezu erstaunlichen Repertoires von Mozart bis Ives begleitet. Hier stellen wir Ihnen zwei Produktionen vor: Zum einen drei Violinsonaten von Bloch. Busoni und Ives, zum anderen mit der ENCORES-CD berühmte Schmankerln der Violinliteratur.

Oliver Colbentson hat als Dozent und als Leiter der Streicher-Abteilung 31 Jahre am Meistersinger-Konservatorium Nürnberg unterrichtet, darunter sehr viele begabte und auch engagierte Schüler, von denen besonders der hochbegabte Gerhard Pfohl zu erwähnen ist, der, obwohl Jurist, ausgezeichnete Virtuosität und musikalische Interpretationskunst erreicht hat.